Prokrastination ist keine Krankheit
Prokrastination – wir alle kennen sie, und doch bleibt sie ein Rätsel.
Warum schiebst du Aufgaben auf, die erledigt werden müssen, obwohl du genau weißt, dass dich das
Aufschieben langfristig schadet?
Es ist ein Paradoxon: Du entscheidest dich bewusst für kurzfristige Bequemlichkeit, wohl wissend, dass
dich die Konsequenzen irgendwann einholen werden.
Du hast es bestimmt schon erlebt.
Dein Abgabetermin rückt immer näher, die To-do-Liste wird länger, und dennoch verbringst du den Tag
damit, unwichtige Dinge zu tun – den Schreibtisch zu organisieren, stundenlang Social Media zu
durchstöbern oder plötzlich den Kleiderschrank zu sortieren.
Die eigentliche Aufgabe bleibt liegen, während die innere Unruhe wächst.
Warum?
Prokrastination ist keine Frage der Disziplin oder Faulheit, wie oft angenommen wird.
Sie ist zutiefst menschlich.
Wir verschieben Dinge nicht, weil etwas „kaputt“ in uns ist, sondern weil wir auf bestimmte innere und
äußere Umstände reagieren.
Emotionale, psychologische und situative Faktoren spielen eine große Rolle.
Anders als Maschinen, die Aufgaben rational und effizient abarbeiten, sind wir von Gefühlen,
Erfahrungen und unserem Umfeld beeinflusst. Wir sind keine Roboter, die immer den logischsten Weg
wählen. Stattdessen lassen wir uns von unserer Stimmung, unseren Ängsten, unserer Motivation und
sogar von kulturellen Prägungen leiten.
Prokrastination zeigt, dass wir Menschen sind.
Das eigentliche Dilemma hinter der Prokrastination liegt in der Art und Weise, wie unser Gehirn
funktioniert.
Wir Menschen sind darauf programmiert, kurzfristige Belohnungen höher zu bewerten als langfristige
Vorteile.
Dieses Prinzip, bekannt als „Gegenwartsverzerrung“, erklärt, warum wir uns lieber mit etwas
Angenehmem oder Einfachem beschäftigen, anstatt uns einer mühsamen oder unangenehmen Aufgabe
zu widmen.
Stell dir vor, du hast die Wahl, eine Steuererklärung zu machen oder einen Film zu schauen.
Die Steuererklärung ist wichtig, aber das Ergebnis liegt in der Zukunft. Der Film hingegen bietet sofortige
Unterhaltung und Entspannung.
Dein Gehirn wird dich oft in Richtung der kurzfristigen Belohnung lenken, selbst wenn du weißt, dass du
später einen Preis dafür zahlen musst.
Häufig wird Prokrastination als dein persönliches Versagen dargestellt. Doch in Wahrheit ist sie oft eine
Form von emotionaler Bewältigung. Du verschiebst Aufgaben, weil du dich von ihnen überfordert,
gelangweilt, verängstigt oder schlicht unmotiviert fühlst.
Statt die Emotionen direkt zu konfrontieren, suchen wir nach Auswegen:
Du lenkst dich ab.
Du machst „Ersatzaufgaben“, die zwar produktiv wirken, dich aber keinen Schritt weiterbringen.
Du vermeidest die Aufgabe ganz, um dich vor unangenehmen Gefühlen wie Frust oder Angst zu
schützen.
Prokrastination ist oft ein Zeichen dafür, dass in deinem Inneren etwas im Ungleichgewicht ist. Sie zeigt
dir, dass wir mit bestimmten Gefühlen, Überzeugungen oder Umständen kämpfen:
In diesem Sinne ist Prokrastination kein Problem, das du einfach „wegtrainieren“ kannst.
Sie ist eine Botschaft deines Verstandes, die dich dazu auffordert, innezuhalten, nachzudenken und die
Ursachen unserer Blockade zu verstehen.
In einer Welt, die Produktivität oft mit Wert gleichsetzt, wird Prokrastination stigmatisiert.
Du fühlst dich schuldig, wenn du nicht immer produktiv bist, und dieses Schuldgefühl verstärkt die Spirale
des Aufschiebens nur noch mehr.
Doch Prokrastination ist keine Schwäche, sondern ein Hinweis darauf, dass du dein Verhältnis zu Arbeit,
Erfolg und Selbstfürsorge überdenken musst.
Anstatt dich dafür zu verurteilen, dass du Aufgaben aufschiebst, könntest du dich fragen:
Warum fällt mir diese Aufgabe schwer?
Welche Unterstützung brauche ich, um sie zu bewältigen?
Wie kann ich sie so gestalten, dass sie sinnvoller oder machbarer erscheint?
Prokrastination betrifft uns alle – vom Studenten, der die Prüfungen vor sich herschiebt, bis zum CEO,
der den Abschluss eines Berichts vertagt. Sie ist kein Zeichen von Faulheit oder Unfähigkeit,
sondern ein universelles menschliches Phänomen, das dir zeigt, dass du mit widersprüchlichen Bedürfnissen und Emotionen kämpfst.
Anstatt Prokrastination als etwas Krankhaftes zu betrachten, solltest du sie als Einladung verstehen,
dich selbst besser kennenzulernen.
Denn oft sind es nicht die Aufgaben selbst, die dich zurückhalten, sondern die Art und Weise, wie du über
sie denkst und fühlst.
Vielleicht wolltest du schon lange deine Wohnung renovieren oder ein persönliches Projekt,
wie das Schreiben eines Buchs, beginnen.
Doch ohne jemanden, der deine Fortschritte bewundert oder dich anspornt, erscheint die Mühe sinnlos.
Stattdessen schiebst du die Renovierung oder das Schreiben immer weiter auf und findest dich
stattdessen auf der Couch wieder.
Du hast wiederholt versucht, eine Excel-Tabelle zu erstellen, und jedes Mal stimmt die Formatierung
nicht.
Nach dem dritten Versuch denkst du: „Warum mache ich das überhaupt? Es klappt doch sowieso nicht.“
Dieser Frust führt dazu, dass du die Aufgabe liegen lässt – vielleicht für Tage oder sogar Wochen.
Du möchtest ein kreatives Projekt anfangen.
Das Zeichnen eines Bildes oder das Schreiben eines Buchs.
Doch jedes Mal, wenn du den ersten Schritt machen willst,
denkst du: „Es wird sowieso nicht gut genug sein.“
Anstatt zu starten, schiebst du die Aufgabe endlos auf – bis sie irgendwann ganz in Vergessenheit gerät.
Oft ist der fehlende Glaube an ein gutes Ende mit Perfektionismus verbunden.
Du setzt die Messlatte so hoch, dass du das Gefühl hast, sie niemals erreichen zu können.
Dies führt zu Selbstzweifeln und der Überzeugung, dass deine Bemühungen von vornherein zum
Scheitern verurteilt sind
Frust ist ein Zustand, der sich oft aus wiederholten Misserfolgen oder negativen Erfahrungen ergibt.
Wenn wir eine Aufgabe beginnen und sie nicht so läuft, wie wir es uns vorgestellt haben,
steigt unsere Frustration.
Das Gehirn registriert die Aufgabe als „unangenehm“ und versucht, sie zu vermeiden –
indem wir sie aufschieben.
Mein Freund Martin arbeitete an einem Gruppenprojekt, bei dem niemand zuverlässig war.
Der Ärger über die anderen Teammitglieder ließ ihn seine eigenen Aufgaben
ebenfalls vor sich herschieben.
Sein Gedanke: „Warum soll ich mich bemühen, wenn die anderen nichts tun?“
Ärger ist eine weitere emotionale Blockade, die oft mit Prokrastination einhergeht.
Dein Ärger kann sich gegen andere richten –
etwa gegen deinen Chef, der unrealistische Erwartungen hat.
Gegen ein System, das dir unnötige Bürokratie aufbürdet.
Doch oft ist dieser Ärger auch gegen uns selbst gerichtet:
„Warum habe ich mich überhaupt in diese Situation gebracht?“
„Wieso bin ich nicht besser organisiert?“
Dieser innere Monolog verstärkt die Lähmung. Du schiebst die Aufgabe weiter auf,
weil du dich in einer emotionalen Spirale befindest.
Du hältst lieber einen inneren Monolog und beschimpfst dich selbst, als die Aufgabe endlich anzugehen.
Ich wollte Französisch lernen.
Ich kaufte Bücher, Apps und Kurse – und fühlte mich plötzlich von der Fülle der Ressourcen überwältigt.
Ich lernte nur sporadisch in der App, mal nur die Grammatik und verlor die Lust,
weil ich keine Erfolge hatte.
Unlust ist eine mächtige Kraft, die deinen Antrieb blockiert.
Wenn eine Aufgabe keinen Reiz hat oder sich wie eine lästige Pflicht anfühlt, fällt es dir schwer,
überhaupt anzufangen – selbst wenn du eigentlich die Zeit und Ressourcen hättest.
Denn wenn du eine Feier ausrichtest, auf die du dich richtig freust, wird dir der Stress nicht zu viel.
Sollst du dagegen Geburtstag feiern, du aber keine dazu Lust hast:
Dann wird dir die Vorbereitung für die Feier zur Last.
Du magst nicht und deshalb schiebst du die unterschiedlichen Aufgaben bis zum bitteren Ende auf.
Das stresst dich dann und du magst erst recht nicht weitermachen und machst den nächsten Schritt nur
unter Zwang.
Du sollst eine Präsentation über ein Thema halten, das dich nicht interessiert.
Du fühlst dich, als würdest du Worte in ein Vakuum sprechen.
Dieses Gefühl, dass niemand wirklich zuhört oder dass das Thema keine Auswirkungen hat,
lässt dich die Aufgabe so lange wie möglich hinausschieben.
Löst du das Problem, in dem du dann die Wohnung erst putzen musst?
Und zwar blitzeblank, damit du die eigentliche Aufgabe nicht tun kannst?
Du bist ja beschäftigt?
Oder machst du dann den wichtigen Sport und läufst deinem Problem buchstäblich davon?
Aber es wird dich trotzdem einholen und deine Lust, deine Aufgabe zu machen, wird nicht kommen.
Rückzug ist auch eine Option, nicht wahr?
Erstmal entspannen und Netflix den nächsten Serienmarathon gucken.
Du willst doch mitreden wollen.
Oder hängst du stundenlang mit dem Handy in Social Media rum?
Auch eine Flucht vor deiner Aufgabe.
Lass dir nicht einreden, dass Prokrastination eine Krankheit sei.
Du nimmst dir selbst die Verantwortung und machst dich klein.
Unmündig.
Ein Kleinkind ist auch ohne Verantwortung.
Größere Kinder übernehmen gerne altersgerechte Aufgaben und fühlen sich groß,
wenn sie dafür Verantwortung tragen.
Warum schiebst du auf?
Nicht, weil es eine Krankheit ist.
Deine Unlust steckt tiefer und du solltest herausfinden,
wie du dich deinen Problemen stellst und deine Aufgaben machst.
Prokrastination ist kein Feind, den du bekämpfen musst,
sondern ein Lehrmeister, der dich auf deine inneren Herausforderungen hinweist.
Indem du diese Herausforderungen verstehst und angehst,
kannst du nicht nur produktiver werden.
sondern auch eine tiefere Verbindung zu dir selbst aufbauen.
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ÜBER DEN AUTOR
Anna Kammerer
© 2024 Anna Kammerer